Wenn eine AHV- oder eine IV-Rente nicht reichen, um die minimalen Lebenskosten zu decken, können Ergänzungsleistungen beantragt werden. Die jährliche Ergänzungsleistung entspricht dem Betrag, um den die anerkannten Ausgaben die anrechenbaren Einnahmen übersteigen. Als Einnahmen werden auch Einkünfte und Vermögenswerte angerechnet, auf die vom EL-Ansprecher verzichtet worden sind. Ein Verzicht liegt vor, wenn die leistungsansprechende Person ohne rechtliche Verpflichtung und ohne adäquate Gegenleistung auf Einkünfte oder Vermögen verzichtet hat.
Gemäss Art. 9 Abs. 2 Bundesgesetz über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (ELG) werden die anerkannten Ausgaben sowie die anrechenbaren Einnahmen von beiden Ehegatten zusammengerechnet. Verzichtet ein Ehegatte auf eine zumutbare Erwerbstätigkeit oder auf deren zumutbare Ausdehnung, um die Einnahmen der Ehegatten zu erhöhen, wird ein hypothetisches Einkommen der Ehefrau oder des Ehemannes eines EL-Ansprechers als so genanntes Verzichtseinkommen angerechnet.
Bei der Ermittlung einer solchen zumutbaren Erwerbstätigkeit ist der konkrete Einzelfall unter Anwendung familienrechtlicher Grundsätze zu berücksichtigen. Es ist dementsprechend auf das Alter, den Gesundheitszustand, die Sprachkenntnisse, die Ausbildung, die bisherige Tätigkeit, die konkrete Arbeitsmarktlage sowie gegebenenfalls auf die Dauer der Abwesenheit vom Berufsleben abzustellen. Bei der Festlegung eines hypothetischen Einkommens ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass für die Aufnahme und Ausdehnung der Erwerbstätigkeit eine gewisse Anpassungsperiode erforderlich ist. Auch hierbei wird auf das Familienrecht verwiesen, indem in Anlehnung an die Festsetzung von nachehelichen Unterhaltsansprüchen eine gewisse realistische Übergangsfrist für die Aufnahme oder Erhöhung des Arbeitspensums eingeräumt wird, bevor ein hypothetisches Einkommen angerechnet wird.
Wie bei der Berechnung eines hypothetischen Einkommens des Ehegatten auf den konkreten Einzelfall eingegangen werden muss, zeigt beispielhaft der Entscheid des Bundesgerichts 9C_118/2020 vom 22.09.2020.
Die Ehefrau des EL-Ansprechers (und Beschwerdeführers) war zum fraglichen Zeitpunkt 22 Jahre alt. Aufgrund ihres Alters ist die Vorinstanz ohne weiteres von einer Vermittelbarkeit ausgegangen. Der Beschwerdeführer bestritt hingegen die Voraussetzungen für die Anrechnung eines Verzichtseinkommens der Ehefrau. Dabei brachte er insbesondere vor, unter Berücksichtigung der Umstände des vorliegenden Falles sei seiner Ehefrau die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nicht zumutbar.
Die erste Tochter des Beschwerdeführers und seiner Ehefrau war zum Zeitpunkt der Anrechnung des hypothetischen Einkommens zwei Jahre alt. Im Juni 2019 wurde das zweite Kind des Paares geboren. Vor Bundesgericht war nun strittig, ob die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit im Umfang von 50% für die Ehefrau des Beschwerdeführers für die Zeitperiode vom 01.02.2019 bis und mit 30. 04.2019 angesichts der persönlichen Umstände zumutbar war. Das Gericht hielt fest, dass die Forderung einer solchen Tätigkeit von der Mutter klarerweise gegen das dem Kindeswohl dienendem Kontinuitätsprinzip verstosse. Die Aufnahme einer solchen Erwerbstätigkeit hätte zur Folge, dass innert kürzester Zeit die wesentlichen Bezugspersonen des zweijährigen Kindes gewechselt hätten. Das Gericht nahm an, dass nach der Geburt die Ehegattin aufgrund der Betreuungsaufgaben für das zweite Kind wiederum zuhause geblieben und sie dann den Betreuungsaufgaben für das erste Kind wieder selber nachgekommen wäre. Eine Fortführung der (hypothetischen) Fremdbetreuung für das erste Kind schloss das Gericht bei einer fehlenden Erwerbstätigkeit nach der Geburt aus.
Das Bundesgericht verweist auf die konkreten Umstände des Beschwerdeführers und seiner Ehegattin und heisst die Beschwerde gut. Eine Anrechnung des hypothetischen Einkommens der Ehegattin wurde vom Bundesgericht als unhaltbar zurückgewiesen. Dabei ist festzuhalten, dass es sich dabei betreffend Sachverhalt auf blosse Hypothesen stützte, schliesslich galt es über die Anrechnung eines hypothetischen Einkommens zu befinden. Die Begründung des Entscheids macht deutlich, wie sehr eine solche Anrechnung von den konkreten, persönlichen Umständen des Einzelfalles abhängt. Es ist daher wichtig, diese Umstände den Behörden offenzulegen, damit sie diese gebührend berücksichtigen können.
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Autor: Christian Bernegger / 01. Feb. 2021, 08:41